
Der Herbst erinnert daran, dass jeder Übergang seine eigene Schönheit hat. Ein Innehalten zwischen dem »Noch« und dem »Nicht-mehr«. Und der Herbst ist mehr als eine Jahreszeit – er ist eine Haltung. Eine Einladung, das Gewordene zu würdigen und zugleich loszulassen. Er lehrt uns, dass Leben Bewegung ist, dass jede Fülle ihr Ende kennt und jedes Ende den Keim eines Anfangs trägt. Wer sich auf diese Übergänge einlässt, entdeckt darin eine besondere Ruhe, eine stille Weisheit, die nur der Wandel selbst lehren kann.
Das Foto vom Sankelmarker See zeigt, was der Herbst kann: goldenes Licht, das über das Wasser zieht, Blätter, die sich spiegeln, als wollten sie den letzten Glanz des Sommers festhalten. Gerade jetzt im Oktober stehe ich oft an solchen Ufern, lasse den Blick schweifen, atme tief ein. Wenn es gelingt, tanke ich Kraft – für das, was kommt. Doch am Ufer zu stehen, bedeutet auch, an einer Schwelle zu stehen: zwischen Land und Wasser, Sommer und Winter, Aktivität und Ruhe. Zwischen dem, was noch ist, und dem, was schon vergeht.
Hier, am Sankelmarker See vor den Toren Flensburgs, bin ich hin und wieder mit Gruppen in Klausur. Es sind Tage des Nachdenkens und der Klärung. Und ohne dass es den Beteiligten immer bewusst wäre, geht es auch hier meist um Übergänge – persönliche, berufliche, manchmal existenzielle. Der See liegt still da, sein Wasser sammelt das Licht und gibt es in gedämpftem Schimmer zurück. Wenn wir in den Pausen am Ufer stehen, wirken manche Diskussionen plötzlich anders. Was eben noch festgefahren schien, bekommt eine weichere Kontur. Im Spiegel des Wassers verliert das Unlösbare seine Schärfe. Der Blick in die Weite lässt ahnen, dass Wandlung möglich ist – langsam, aber stetig, wie die Jahreszeiten selbst.
Der Herbst ist die Jahreszeit des Übergangs. Er schenkt Fülle und fordert Loslassen. Überall spürt man diese Spannung: das Reifen und das Verblassen, das Ernten und das Vergehen. Wir feiern die Früchte unserer Arbeit – und wissen zugleich, dass die Zeit der Ernte begrenzt ist. Vielleicht liegt gerade darin die tiefe Schönheit dieser Tage: dass sie uns daran erinnern, dass Fülle und Vergänglichkeit zusammengehören.
Die innere Bewegung des Übergangs
William Bridges, ein amerikanischer Forscher und Pionier der Transitionspsychologie, hat das Wesen dieser Schwellenzeit in einem Satz verdichtet: »Transition begins with an ending and ends with a beginning.« – Ein Übergang beginnt mit einem Ende und endet mit einem Anfang.
Bridges unterscheidet zwischen Veränderung und Übergang. Veränderung, so sagt er, sei das, was im Außen geschieht – ein Jobwechsel, ein Umzug, der Verlust eines Menschen, das Ende einer Lebensphase. Übergang aber sei das, was im Inneren stattfindet: der Prozess, mit dem wir das Alte loslassen und uns auf das Neue vorbereiten. Dieser Prozess folgt drei Phasen: dem Ende, der sogenannten neutral zone, und dem Neubeginn. Gerade diese mittlere Phase – die Zone des Dazwischen – ist entscheidend. Hier ist vieles unklar, ungeordnet, leer. Sie kann schmerzhaft sein, weil das Alte nicht mehr trägt und das Neue noch nicht greifbar ist. Aber sie ist auch ein Ort des Wachstums. In ihr reifen wir. So wie die Natur im Herbst zur Ruhe kommt, um im Frühling neu zu erblühen, brauchen auch wir diese Zwischenräume. In ihnen klärt sich, was wirklich bleibt.
Bridges versteht Übergänge als notwendige Bewegungen des Lebens. Wer versucht, sie zu überspringen, verliert die Tiefe des Erlebens. Wer sie annimmt, findet darin Sinn. Denn erst das bewusste Loslassen öffnet die Tür zum Neubeginn.
Raum für das, was wir werden
Diese Haltung des bewussten Loslassens findet sich auch bei der schwedischen Autorin Margareta Magnusson, die mit ihrem Buch The Gentle Art of Swedish Death Cleaning ein stilles, aber eindringliches Plädoyer für das Aufräumen vor dem Ende geschrieben hat. Ihr Begriff Döstädning – zusammengesetzt aus dö (Tod) und städning (Aufräumen) – meint weit mehr als ein praktisches Sortieren von Dingen. Es ist eine Lebenshaltung, die Verantwortung, Achtsamkeit und Freiheit verbindet.
Magnusson schreibt: »The space in which we live should be for the person we are becoming now, not for the person we were in the past.« – Der Raum, in dem wir leben, sollte für den Menschen gestaltet sein, der wir jetzt werden, nicht für den, der wir früher waren. Dieser Gedanke reicht weit über das Materielle hinaus. Auch innerlich häufen wir Dinge an – Erfahrungen, Erwartungen, Rollen –, die uns nicht mehr entsprechen. Übergänge laden dazu ein, diese inneren Räume zu prüfen. Was brauche ich wirklich noch? Was darf gehen?
Döstädning bedeutet, Ordnung zu schaffen – nicht aus Angst vor dem Ende, sondern aus Liebe zum Leben. Es ist ein Akt der Befreiung, der dem Kommenden Raum gibt. Magnusson formuliert es mit schwedischer Klarheit: »Do not ever imagine that anyone will wish—or be able—to schedule time off to take care of what you didn’t bother to take care of yourself.« – Glaube niemals, dass jemand anders das erledigen wird, worum du dich selbst nicht gekümmert hast. Diese Ehrlichkeit ist kein Vorwurf, sondern eine Einladung: zu Verantwortung, zu Bewusstheit, zu Frieden.
Loslassen als Ernte
Wenn ich am Sankelmarker See stehe, sehe ich, wie der Wind kleine Wellen über die Oberfläche zieht. Das Wasser nimmt sie auf, verwandelt sie, trägt sie weiter. So ähnlich ist es mit dem Leben: Es wandelt sich, ob wir wollen oder nicht. Loslassen heißt nicht, sich zu entleeren, sondern das Gewordene zu würdigen. So wie der Herbst die Früchte offenbart, so zeigt er auch, was uns reif gemacht hat.
Übergänge fordern uns auf, still zu werden, zu prüfen, was wir behalten, was wir weitergeben, was wir hinter uns lassen wollen. Sie schenken die Gelegenheit, das eigene Leben neu zu ordnen – innen wie außen. Vielleicht ist der Herbst deshalb die weiseste aller Jahreszeiten. Er erinnert uns daran, dass wir beides brauchen: die Fülle des Gewesenen und die Leere, in der Neues entstehen kann. Am Ende bleibt nicht Verlust, sondern Dankbarkeit. Und die Erkenntnis, dass das Leben selbst ein einziger Übergang ist – zwischen Licht und Schatten, Werden und Vergehen, Fülle und Loslassen.
Wie denken Sie darüber? Schreiben Sie mir gern!
Ihr
René Märtin
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Sein Hauptwerk. Ein Klassiker über den inneren Prozess von Veränderung – über das Loslassen, das Dazwischen und den Neubeginn. Brillant darin, Übergänge nicht als Krise, sondern als natürliche Phasen des Lebens zu verstehen.
William Bridges – Managing Transitions: Making the Most of Change (1991)
Die Anwendung seines Modells auf Organisationen und Führung. Ein wegweisendes Buch für alle, die Wandel begleiten – mit tiefem psychologischem Verständnis und menschlicher Klarheit. Erhältlich auch in deutscher Übersetzung (2018).
William Bridges – The Way of Transition: Embracing Life’s Most Difficult Moments (2001)
Persönlichstes Werk des Autors. Geschrieben nach dem Tod seiner Frau – ein bewegendes Buch über Verlust, Sinnsuche und den Mut, dem Leben neu zu begegnen.
Margareta Magnusson – The Gentle Art of Swedish Death Cleaning (2017)
Ein leises, humorvolles und tiefsinniges Buch über das bewusste Aufräumen im Leben. „Döstädning“ ist hier mehr als Ordnung – es ist eine Haltung des Friedens, der Verantwortung und des Loslassens. Erhältlich auch in deutscher Übersetzung (2018).
Margareta Magnusson – The Swedish Art of Aging Exuberantly (2022)
Die Fortsetzung ihres Erfolgsbuchs. Über das Älterwerden mit Leichtigkeit, Selbstironie und Lebensfreude. Magnusson schreibt mit jener sanften Klarheit, die typisch ist für die nordische Gelassenheit im Umgang mit Wandel und Endlichkeit.