
Unsere Beziehung zur Natur ist mehr als eine Frage des Umweltschutzes – sie berührt unser Selbstbild, unser Denken und unser Tun. Wie wir uns als Teil der natürlichen Welt begreifen, bestimmt unser Verhalten – und die Haltung, mit der wir Verantwortung übernehmen. Wie bewusst erleben wir unseren Platz in der Natur – und was bedeutet das für unser Leben?
Eine Frau steht am Strand von Bovbjerg Klint, den Blick weit aufs Wasser gerichtet, der Wind trägt das Rauschen der Nordsee über die Steilküste hinweg. Ihre Silhouette zeichnet sich klar gegen das Licht der Sonne der »goldenen Stunde«. Kein Smartphone in der Hand, kein Lärm der Welt, nur sie, der Himmel, das Meer. Vielleicht ist es genau dieser Moment, in dem sie sich erinnert: Ich bin Teil dieser Welt. Nicht getrennt, nicht entrückt, sondern eingebettet – in die Rhythmen, Formen und Kräfte der Natur.
Eine existenzielle Erfahrung
Die Erfahrung der Verbundenheit mit der Natur ist mehr als ein flüchtiger, ästhetischer Moment – sie ist zutiefst existenziell. In einer Welt, die zunehmend von Digitalisierung, Technisierung und Beschleunigung geprägt ist, verlieren wir leicht das Gefühl für unser Eingebundensein. Die Natur wird zur Kulisse, zum Erholungsraum oder zur Ressource – aber nur selten erleben wir sie als Mit-Welt, als lebendigen Zusammenhang, in dem wir wirklich beheimatet sind.
Gerade hier setzt die Naturphilosophin Joanna Macy an. Sie spricht von einer »tiefen Ökologie«, die nicht allein den äußeren Schutz der Natur im Blick hat, sondern ein inneres Umdenken verlangt: Wir sind nicht getrennte Beobachter der Erde, sondern Ausdruck des Lebens selbst. Aus dieser Perspektive entsteht eine Ethik der Fürsorge – nicht aus moralischer Verpflichtung, sondern aus Dankbarkeit und tiefer Einsicht. Wer sich verbunden fühlt, zerstört nicht. Wer sich zugehörig weiß, übernimmt Verantwortung – nicht nur für sich selbst, sondern für das größere Ganze.
Macy beschreibt diese Haltung als spirituelle Praxis. Sie lehrt uns, mit der Welt zu leiden, ohne in Resignation zu verfallen. Trauer und Hoffnung dürfen nebeneinander stehen – wie zwei Seiten eines offenen Herzens. Gerade in Zeiten ökologischer Krisen erkennt sie in dieser emotionalen Offenheit eine politische Kraft: die Fähigkeit, nicht abzuschalten, sondern hinzuschauen, zu empfinden und aus Liebe heraus zu handeln.
In eine ähnliche Richtung dachte auch der Sozialpsychologe Erich Fromm – wenn auch aus einer anderen geistigen Tradition kommend. In seiner Unterscheidung von »Haben oder Sein« beschreibt er zwei grundlegende Weisen, wie der Mensch sich zur Welt verhalten kann. Während das Haben trennt und entfremdet, führt das Sein zur Begegnung: mit sich selbst, mit anderen, mit der Natur. Für Fromm ist lebendiges Sein nur dort möglich, wo Liebe im Spiel ist – verstanden nicht als romantisches Gefühl, sondern als tätige Hinwendung zum Leben in seiner Tiefe.
Auch für ihn ist diese Haltung nicht unpolitisch: Eine Gesellschaft, die auf Besitz, Kontrolle und Konsum ausgerichtet ist, entfremdet uns vom Wesentlichen. Dem setzt Fromm eine Kultur des Seins entgegen – geprägt von Achtsamkeit, Solidarität und innerer Freiheit. Nur in dieser Haltung, so seine Überzeugung, können wir wirklich in Einklang kommen mit dem, was uns umgibt. Er plädiert daher für eine radikale Umkehr: von der Ausbeutung zur Ehrfurcht, vom Haben zum Sein.
Räume für Resonanz
Die Gedanken von Macy und Fromm zeigen: Verbundenheit ist keine abstrakte Idee, sondern eine gelebte Erfahrung – mit seelischer, sozialer und politischer Tragweite. Auch in der existenziellen Psychologie wird deutlich, dass ein Mangel an Beziehung zur Natur uns krank machen kann. Viktor Frankl betonte, dass der Mensch Sinn nicht nur in sich selbst findet, sondern in der Welt. Natur kann eine Quelle dieses Sinns sein – als Spiegel unserer inneren Bewegungen, als Resonanzraum für unsere Gefühle, als Lehrmeisterin für Geduld, Wandel, Vergehen und Neubeginn.
Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt dieses Erleben als Resonanz: eine tiefe, lebendige Beziehung zur Welt – nicht im Sinne von Kontrolle, sondern als Antwortgeschehen. Die Natur antwortet, wenn wir ihr begegnen. Und vielleicht ist diese Antwort nicht laut, aber spürbar – in einem inneren Frieden, in einem Moment der Klarheit, in einem Lächeln, das sich still auf unser Gesicht legt.
Denn die Natur zeigt uns, dass alles eingebettet ist in Kreisläufe und Übergänge. Das Meer mit seiner unermüdlichen Bewegung, die Jahreszeiten mit ihrem Wechselspiel aus Werden und Vergehen, der Himmel mit seinen unzähligen Formen – sie alle erzählen Geschichten, die älter sind als wir, und doch zutiefst mit uns zu tun haben. In ihnen erkennen wir vielleicht wieder, was wir in der Betriebsamkeit des Alltags vergessen: dass auch unser Leben rhythmisch ist, dass Pausen dazugehören, Wandel erlaubt ist, dass Scheitern Teil des Wachsens ist.
Vielleicht steht sie noch immer da, die Frau am Strand. Vielleicht denkt sie nichts Besonderes – und gerade das macht diesen Moment so besonders. Sie ist einfach da, still, wach, gegenwärtig. Und genau darin liegt etwas Kostbares: ein Erinnern daran, dass wir nicht allein sind. Dass wir verbunden sind. Mit dem Wind, dem Sand, dem Leben.
Ein stilles Versprechen
Es braucht heute Räume, in denen wir solche Erfahrungen wieder zulassen. Orte, an denen wir nicht funktionieren, sondern einfach sein dürfen. Spaziergänge im Wald, stille Stunden am Wasser, barfüßige Wege durch Wiesen – sie schenken uns mehr als frische Luft. Sie schenken uns die Erinnerung daran, dass wir verwoben sind mit allem Lebendigen. Dass unsere Identität nicht an der Grenze unserer Haut endet, sondern sich ausdehnt in die Welt hinein.
So lädt uns die Natur ein, unser Selbstverständnis neu zu justieren: nicht als Herrschende, sondern als Teilhabende. Nicht als Besitzende, sondern als Mitschwingende. Sie zeigt uns, dass wir dazugehören – nicht, weil wir perfekt sind, sondern weil wir lebendig sind.
Am Ende bleibt die Hoffnung, dass wir diese Verbundenheit nicht nur spüren, sondern leben. In unserem Alltag, in unseren Entscheidungen, in unserem Blick auf die Welt. Dass wir wieder lernen, dem Leben zuzuhören – mit offenen Sinnen und weichem Herzen. Und dass wir, wie die Frau am Strand, ab und zu einfach still dastehen, den Wind spüren, das Licht sehen – und in diesem Moment begreifen: Ich bin da. Ich gehöre dazu. Und das genügt.
Ihr
René Märtin
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