
Wie gelingt es uns, Zeit bewusst zu leben – und was heißt es eigentlich, im Moment wirklich anwesend zu sein? Gerade weil unsere Zeit endlich ist, ist sie so kostbar. Dieser Text lädt dazu ein, innezuhalten, die eigene Beziehung zur Zeit zu reflektieren – und vielleicht neue Zugänge zu einem achtsamen, präsenteren Leben zu entdecken. Es ist eine Einladung, sich dem Hier und Jetzt etwas bewusster anzuvertrauen.
In der Zeit sein – oder von ihr getrieben?
Zeit ist ein seltsames Phänomen. Wir können sie nicht sehen, nicht greifen, nicht festhalten – und doch bestimmt sie unser gesamtes Leben. Wir messen sie in Stunden und Jahren, in Erinnerungen und Erwartungen. Wir planen sie, verwalten sie, beklagen ihren Mangel. Manchmal fliegt sie vorbei, manchmal scheint sie stillzustehen. Und oft vergessen wir, dass Zeit nicht einfach vergeht – sondern dass es unser Leben ist, das sich in ihr vollzieht.
Immer wieder hören wir, wie kostbar Zeit sei. Aber was heißt das eigentlich? – Kostbar ist, was begrenzt ist. Zeit ist genau deshalb so wertvoll, weil sie endlich ist. Jeder Tag, jede Stunde, jeder Moment ist unwiederbringlich. Das Leben kennt keine Wiederholungen. Und obwohl wir das wissen, leben wir oft so, als hätten wir unendlich viel davon. Wir hetzen von Aufgabe zu Aufgabe, verlieren uns in To-do-Listen und Kalendern – und bemerken kaum, wie die Zeit verrinnt. Wie ein Fluss, der unwiderruflich weiterströmt.
Die alten Griechen unterschieden zwischen zwei Dimensionen der Zeit: Kronos, die messbare, lineare Zeit, und Kairos, der rechte Augenblick. Kronos ist die Uhrzeit, das Datum, die Chronologie. Kairos hingegen ist der Moment, in dem etwas geschieht, das Bedeutung hat. Ein Blick, ein Wort, ein Entschluss – ein Augenblick voller Präsenz. Kairos ist die Zeit, in der wir wirklich da sind, in der das Leben zu uns spricht. Nicht im Takt der Uhr, sondern im Rhythmus des Herzens.
Präsenz als Geschenk – und Verantwortung
Was heißt es, präsent zu sein? – Es bedeutet, mit allen Sinnen im Jetzt zu leben. Nicht in Gedanken an das, was war, oder an das, was vielleicht kommt. Sondern mit wacher Aufmerksamkeit für das, was ist. Präsenz ist ein Zustand der Bewusstheit – ein inneres Ankommen. Sie erfordert Mut: den Mut, stehenzubleiben, hinzuschauen, sich berühren zu lassen. In einer Welt voller Ablenkungen ist das eine Herausforderung. Aber es ist auch eine Entscheidung: für das Leben, für die Tiefe, für die Beziehung.
Albert Camus hat einen wesentlichen Aspekt dieses Gedankens in Worte gefasst, die bis heute nachhallen: »Die wahre Großzügigkeit der Zukunft gegenüber besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben« (Der Mensch in der Revolte, deutsch 1953). In diesen Worten steckt eine Einladung – und ein Appell. Wenn wir wirklich etwas für die Zukunft tun wollen, wenn wir Verantwortung übernehmen wollen für das, was kommt, dann müssen wir jetzt handeln. Nicht morgen. Nicht irgendwann. Jetzt. Nur wer im Jetzt lebt, kann das Morgen gestalten.
Präsenz ist dabei nicht nur eine innere Haltung. Sie ist auch ein Akt der Verbundenheit – mit sich selbst, mit anderen, mit der Welt. Wer präsent ist, schenkt sich selbst und dem Gegenüber die kostbarste Ressource, die wir haben: ungeteilte Aufmerksamkeit. In der Gegenwart zu leben heißt, das Leben in seiner Fülle zu erfahren – mit all seiner Schönheit, mit all seiner Zerbrechlichkeit.
Zeit und Endlichkeit – ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn
Die im Zeiterleben spürbare Endlichkeit des Lebens ist dabei keine düstere Drohung. Im Gegenteil: Sie ist eine Einladung zur Intensität. Denn nur weil unsere Zeit begrenzt ist, bekommt sie Bedeutung. Nur weil das Leben endlich ist, lohnt es sich, es zu gestalten. Doch gerade dieser Gedanke macht uns oft unruhig. Die Zeit läuft ab – und wir wissen nicht, wann. Diese Ungewissheit kann lähmen. Oder sie kann uns wachrütteln.
Die Philosophin Hannah Arendt hat einmal gesagt: »Menschen sind die einzigen Wesen, für die Sein gleich Erinnern ist, und nur in der Erinnerung ist Zeit aufgehoben« (Zwischen Vergangenheit und Zukunft, deutsch 1994). Erinnerung überwindet die Vergänglichkeit. Sie bewahrt, was gewesen ist, sie macht unser Leben erzählbar. Vergangenheit und Zukunft verbinden sich in uns – in dem, was wir erinnern, und in dem, was wir erhoffen. Doch beides findet seinen Ort nur im Jetzt.
Zeit bewusst zu nutzen bedeutet nicht, sie zu füllen – sondern sie zu erleben. Es geht nicht um Effizienz, sondern um Echtheit. Nicht um Kontrolle, sondern um Hingabe. Der gegenwärtige Moment ist das Einzige, das uns wirklich gehört. Er ist der Raum, in dem wir leben, lieben, handeln können. Alles andere ist Erinnerung – oder Vorstellung.
Die Taschenuhr auf dem Fossil, wie in der Illustration zu sehen, erinnert uns: Unsere Zeit ist eingebettet in eine größere Geschichte. Die Welt war vor uns – und sie wird nach uns sein. Doch unser Menschsein entfaltet sich im Werden – im Spannungsfeld zwischen Herkunft und Zukunft. Deshalb: Unser Leben ist jetzt. Zwischen Geburt und Tod liegt unsere Verantwortung: bewusst zu leben, bewusst zu wählen, bewusst zu sein. Diese Zeilen erscheinen kurz vor Ostern – in jener besonderen Zeit zwischen Karfreitag und Neubeginn. Eine Zeit, die viele daran erinnert: Das Leben ist zerbrechlich. Und doch birgt es Hoffnung. Manchmal beginnt etwas ganz Neues – mitten im Jetzt.
Ich möchte Sie ermutigen, Ihre Zeit nicht nur zu zählen, sondern sie zu leben – bewusst, wach und mit offenem Herzen. Lassen Sie sich nicht treiben, sondern halten Sie inne. Schenken Sie dem Moment Ihre volle Aufmerksamkeit, denn in ihm liegt die Kraft zur Veränderung. Vertrauen Sie darauf, dass nicht die Länge, sondern die Tiefe unserer Zeit entscheidend ist – und dass jeder Augenblick die Möglichkeit birgt, das Leben neu zu beginnen.
Ihr
René Märtin
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