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20. Oktober 2005 by René Märtin

Insel der Sonne, Insel der Kunst – Herbert Wehners kleines Paradies

Öland und die Künstlerkolonie Vickleby

Angeblich fühlte sich Ex-Exilant Wehner auf der schwedischen Insel der Sowjetunion näher – und damit sicherer. Was aber macht den wirklichen Reiz Ölands aus, das bis heute Domizil für Ruhesuchende und Künstler ist?

Umgeben von der verführerisch blauen Ostsee liegt die lange, schmale und kaum hohe Insel vor der Südküste Schwedens, die karge Karst- und Heidelandschaft bildet auf der Ostseite zum Meer hin Küstenterrassen. Im Westen liegt der Kalmarsund, während man auf der anderen Seite nichts als ein blauflimmerndes Band sieht. Knappe 160 Seemeilen südöstlich von Öland liegt die Danziger Bucht, das sind 45 Minuten mit dem Flugzeug. Markus Wolf kolportiert in seinen Memoiren, Herbert Wehner hätte die Insel insgeheim als möglichen Ausgangspunkt für eine erneute Flucht in den Osten gedacht, »sollte es doch noch eimal brenzlig werden«, wie seinerzeit 1937, bei seiner Flucht nach Moskau. 1941 reiste Wehner mit Parteiauftrag nach Schweden, wurde dort aber verhaftet und inhaftiert. Fällt man so in Liebe zu einem Land? Er tat es. Für viele Jahre hatte er mit seiner Frau ein Sommerhaus auf Öland und wenn auch die These von der möglichen Flucht in die Sowjetunion so nicht stimmt – etwas anderes ist richtig: Hier, umgeben von der See und einer einzigartigen Landschaft, konnte man in der Nachkriegszeit Abstand gewinnen von Hetz- und Rufmordkampagnen, vom harten politischen Geschäft. Das – vielfach heiter erscheinende – Schweden zur Zeit des Kalten Krieges war den westlichen Gesellschaften in Sachen Freiheit und Offenheit weit voraus. Greta Wehner berichtet von Ausflügen mit Rad und Picknickkorb – Sommerferien auf Öland. Sommerliche Sehnsucht, lange Herbstwanderungen und sorgenfreie Abende am winterlichen Kamin; dafür steht ein Urlaub auf Öland heute noch.

Weltkulturerbe und kaum Nachkommen

»Da drüben!«. Carina zeigt auf ein halbverfallenes Holzhaus. Die Farbe blättert ab, blindes Fensterglas, aber der Garten vor der Veranda steht in voller Blüte: Busch- und Bauernrosen, Ringelblumen, Stiefmütterchen und Vergißmeinnicht, davor ein windschiefes Gartentor. Carina, die mit ihrer Familie in Kalmar lebt, ist auf Öland geboren und arbeitet im größten Inselort als Sprachlehrerin. »Nein, nicht den Garten meine ich.« Die resolute Schwedin streicht sich eine strohblonde Strähne hinters Ohr. Ein Gesicht im oberen Stockwerk huscht vom Fenster weg, ein Vorhang bewegt sich. Die Farbenpracht in den Vorgärten erzählt wenig von der Geschichte der Bewohner. »So viele Häuser hier werden nur noch von einer einzigen Person bewohnt. Ein alter Mann, eine alte Frau. Sie können sich kaum um das alles kümmern, aber die Kinder gehen weg und sie bleiben allein zurück.«

Still ist die Natur; viele der kleineren Ortschaften entlang der Wege sind es auch. Seit Jahrtausenden war Öland eine ausgeprägte Agrarlandschaft, die nur einer begrenzten Anzahl von Menschen genügend Nahrung liefern konnte. Die letzte große Agrarkrise vor dem ersten Weltkrieg vertrieb etwa die Hälfte der Bewohner von der Insel. Trotz ständiger Verbindung durch die Ölandsbrücke sinken die Einwohnerzahlen auch heute noch, denn neben dem Tourismus bleibt die Landwirtschaft die bedeutendste Einnahmequelle. Wer im Sommer kommt, mag das kaum glauben, denn dann leben hier mehr als das Zehnfache der 24 500 Einwohner.

Doch vor und nach den großen Industrieferien ist es an vielen Orten recht einsam. Dann lädt die Insel zu Entdeckungen ein: in der sonnenreichsten Landschaft Schwedens finden sich Seewiesen, Reihendörfer, viele prähistorische Funde, Windmühlen, alte Kirchen, vorgeschichtliche Festungen, unzählige seltene Vogelarten und eine einmalige Flora – allein drei Dutzend verschiedene Orchideenarten werden gezählt. Öland ist eine Insel von unschätzbarem kulturellen und ökologischen Wert und die Kulturlandschaft Südölands wurde in das Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen.

Capellagården und die Künstlerkolonie Vickleby

Öland wäre ohne seine Künstler und die vielen Kunsthandwerker nicht denkbar. Überall in den Ortschaften und an den Wegkreuzungen sieht man das Schild »Galleri«, ein Abstecher lohnt sich so gut wie immer. 10 km südlich des ehemaligen Fährhafens Färjestaden liegt das eigentliche Kleinod der Inselkunst, die weit über die Landesgrenzen bekannte Künstlerkolonie Vickleby.

Die fünfjährige Matilda ist verblüfft, als sie bei einem Spaziergang durch das Dorf etwas sieht: »Mama, verkauft das Mädchen die Blumen?« Ja. Auf einem Mäuerchen liegen zusammengebundene Gänseblümchen und lassen in der Mittagshitze die Köpfchen hängen. 5 Kronen möchte das vielleicht achtjährige Mädchen haben und die bekommt es, weil es diese schöne Idee hatte. Was das Stadtkind nicht fassen kann, ist für die Erwachsenen wie ein Traum aus längst vergangenen Zeiten.

Alles hier in Vickleby im Süden der Insel scheint aus einer anderen Zeit zu stammen. An der Wand eines alten Schuppens lehnt ein verrosteter Heuwender, Emaille-Eimer stehen neben der schiefgetretenen Schwelle und unter dem Vordach hängen die zerrupften Segel eines Fischkahns. Ganz geblendet ist man an diesem Ort und betäubt von der Ruhe, die über allem liegt.

Am südlichen Ende der schönen Dorfstraße in Vickleby liegt eine Wehrkirche aus dem 11. Jahrhundert. Gleich dahinter steht die alte Volksschule: ein langgezogenes, weißgestrichenes Holzgebäude. Den Sommer über zeigt die private Kunstschule Cappellagården hier in lichtdurchfluteten Räumen die Handwerks- und Kunstprodukte aus Holz, Keramik und Textil, die während des Jahres hergestellt worden sind. Gebrauchsgegenstände, Kunst, Schmuck, Kleidung und Möbel stehen auf weißen Podesten und Tischen, warten auf Käufer. Vieles ist dabei, was man aus der Urlaubskasse bezahlen kann, aber die Stars der Ausstellung sind nicht das, was man Schnäppchen nennt. Hier werden Möbel verkauft, die in der dreijährigen Ausbildung zum Möbel- und Einrichtungstischler hergestellt worden sind. Alle Arbeiten sind Handwerk von atemberaubendem Design und höchster Qualität, was die zum Teil stolzen Preise von bis zu 6 000 Euro erklärt. Dem Besucher ist nun auch klar, woher die aus dem IKEA-Katalog bekannten Linien, Formen und Farben schwedischen Designs kommen.

Öland ist die Insel des Lichts – Ort der Kunst und Hort des vollendeten Handwerks, besonders der Keramik- und Möbelbaukunst, ist Vickleby. Die Natur und das besondere Licht auf Öland lockte früher wie heute viele Maler, Schriftsteller und Naturwissenschaftler auf die Insel. Zur Zeit des zweiten Weltkriegs sammelte der Maler William Nordling Künstler wie Axel Kargel, Vera Nilsson, Gösta Palm, Arthur Percy und Harald Sallberg um sich, die sich auf der Suche nach dem geeigneten Rückzugsort befanden. Ganz Europa war dem reisenden Künstler verschlossen – Schweden war unabhängig und bot mit Öland das ideale Refugium, eine Art spätes »Capri des Nordens«. Zusammen mit seiner Frau Maja Uddenberg gab Nordling der Kolonie eine Ausrichtung; die Bilder, Plastiken und Keramiken der Künstler erzählen vom Rückzug ins Innere angesichts der Brutalität des Weltkrieges. Das Minimale beherrscht die Oberfläche, die öffentliche Stimme verstummt und entdeckt die Utopie des Friedens in den Details der Landschaft. Typisch ist die Verbindung von klaren, sachlichen Linien mit Elementen aus traditioneller Kunst, eine auch heute noch tonangebende Richtung. Maja gehörte das »Bo Pensionat«, eine schöne große Villa mit Garten, die es immer noch gibt und in dem Haus fanden viele Künstler Unterschlupf.

Inspiration für Generationen

Die hellen, weiten Räume im Bo Pensionat atmen heute noch den Geist des Designers und Pädagogen Carl Malmstens, der mit seinen richtungsweisenden Möbelentwürfen Weltruhm erlangte und Vickleby bekannt machte. Er kaufte Ende der fünfziger Jahre das alte Gehöft Elliottsgården in Vickleby und gründete hier Capellagården, die Schule für Handwerk und Design, deren Produkte in dem alten Schulgebäude ausgestellt werden. Studenten aus aller Welt teilen sich auf dem Gelände Arbeits- und Wohnhäuser und betreiben den bekannten Kräutergarten.

Auf Capellagården werden Sommerkurse angeboten, die sich gemäß der pädagogischen Ansätze Carl Malmstens hauptsächlich an Lehrer und Kunstvermittelnde richten, die hier einen grundlegenden Einblick in Kreation und Gestaltung erhalten. Von Mai bis September stellt der Kunstverein Södra Ölands Konstförening in den Räumen zeitgenössische Kunst öländischer Maler und Bildhauer aus. Viele von denen, wie die für ihre naive Kunst bekannte Malerin Bessie Johanson, leben in der Nähe. Ein kurzer Anruf oder eine E‑Mail vorab – und man ist in fast jedem Atelier willkommen.

Nach dem Spaziergang durch den Ort und den vielen Eindrücken schließt sich der Kreis wieder in Maja Uddenbergs Villa am Ortseingang; im Garten des Bo Pensionats warten die berühmten Speckpfannekuchen Ölands und ein kaltes Bier. Mehr ist es wohl nicht, was auch für Wehner das Paradies ausmachte.

(2005, für »Neues Deutschland«)

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