Man hört ihn nicht
Auffallend unauffällig gibt sich der deutsch-polnische Musiker Peter Krajniak. Still beginnt er sein Programm und ebenso kommentarlos beendet er es. Er gehört zu den wenigen Solokünstlern, die um ihre Person kein großes Aufheben machen. Wer nach einem Konzert das Gespräch mit Krajniak sucht, muss sich ihm regelrecht in den Weg stellen.
Viele und vor allem unnütze Worte im Umfeld einer soeben dargebotenen Interpretation liegen ihm nicht. Und er verzichtet auf die üblichen Superlative, mit denen Kollegen oder deren Management nur so um sich werfen. Alles, was »einzigartig«, »nahezu unmenschlich brillant« oder »unwahrscheinlich außergewöhnlich« ist, interessiert Peter Krajniak nicht.
Denn es würde in keinem Fall der Sache gerecht werden. Was einzigartig ist, findet keinen Vergleich, also gibt es keine Orientierung. Was nahezu unmenschlich ist, ist wohl nicht für den Menschen gemacht. Glänzend ist das, was ohne Politur wenig her macht und unwahrscheinlich ist nicht wahr, also existiert es nicht.
Was Peter Krajniak am Klavier vollbringt ist vielmehr das, was sein Moskauer Mentor Igor Shukov über ihn sagt: »You may not hear him playing the piano – you get something more important: music«.
Ein Klavierabend mit Krajniak ist deshalb ein Genuss, weil man ihn nicht hört. Nicht seine Technik, seinen Körpereinsatz oder seine Absichten, die sich hinter der Interpretation verstecken. Man hört – die Musik. Der Künstler nimmt sich als Medium wahr und entkleidet den Vortrag. Nimmt ihm die technischen Versteckspiele und die Maske geläufiger Interpretationen. Lässt schließlich sich selbst – die Psyche – in die Komposition hinein fallen, beherrscht dadurch das herrschende Kognitive und gibt die Muse frei, den Ur-Gedanken hinter dem Notat.
Erleben statt zuhören
Peter Krajniaks Spiel zu lauschen bedeutet nichts weniger, als an den Ursprung heranzutreten. Es ist gut möglich, dass sich bei einem seiner Vorträge jenes Klangfenster öffnet, das uns ermöglicht, eine Musik auf die Art und Weise zu hören, wie sie der Komponist selbst vernommen haben mag. Nach einigen Minuten wird die Musik zu einem kollektiven Erleben des Flow-Zustandes: Zeit und Raum sind aufgehoben, der Zuhörer ist ganz mit der Interpretation verwoben und geht in ihr auf.
»Peter brings us back the unique experience that moves us«, sagt Igor Shukov und erinnert an seine eigenen geradezu obsessiven Erfahrungen mit den preisgekrönten Interpretationen des mystischen Werks von Alexander Skriabin.
Blick in unsere Seele
Vor vielen Jahren, der Adoleszenz noch nicht entwachsen, kam ein junges, vielversprechendes Talent aus Polen nach Deutschland. Von Kritikern und Mäzenen bald gerühmt, hätte aus dem jungen Mann leicht ein Star werden können – die dafür notwendige Geschmeidigkeit vorausgesetzt.
Doch diejenigen, die heute auf dem Weltmarkt geradezu inflationär als solche gehandelt werden, lassen das Angebot von miterlebter Interpretation schmerzlich vermissen. Angesichts der damaligen Vorschusslorbeeren kamen nur zwei Wege in Betracht: der offensive Umgang mit dem tatsächlich nicht alltäglichen Talent – oder der Rückzug in die innere Auseinandersetzung mit der Musik und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Wenn Peter heute sagt, »die künstlerische Reife war einfach nicht da«, dann stimmt das natürlich so nicht.
Nach modernem Verständnis schöpfen berufene Menschen aus dem kollektiven Bewusstem, erlernen lediglich die technische Fähigkeit, im Zusammenspiel mit einem Instrument zum Medium zu werden. Die Musik als vielzitierter »Spiegel der Seele« – das ist ein Fakt. Wenn Musik die Kraft hat, uns zu berühren – uns zu bewegen –, dann ist sie ein Gewinn. Was der Interpret braucht, ist Verständnis des Universalen, den Einblick in seine und des anderen Psyche und den Mut, das eigene Ego der Muse unterzuordnen. Der Musiker Peter Krajniak »bezwingt« nicht das Werk und das Werk hat nicht den Künstler im Griff. Wenn man so will, ist es der Augenblick der zählt – und der maßlose, weil grenzenlose Funke der Inspiration, der sich Künstler wie Auditorium mitteilt, als wäre der Konzertsaal Athens Aeropag vor rund zweitausend Jahren.
Schleuse ins Endlose
Ein Abend oder Nachmittag mit Peter Krajniak am Klavier ist daher nicht die Variation des sattsam Bekannten. Selbstverständlich besitzt er genügend Erfahrung, Energie und Disziplin, sich mit »bewährten«, beliebten und gewünschten Kompositionen auseinanderzusetzen. Selbstverständlich kommen Hörer auch bei ihm in den Genuss eines vortrefflichen Chopin. Er erfüllt unsere Erwartungen aber nur bedingt.
In unserer orientierungslosen Zeit hat sich Peter Krajniak jedoch vorgenommen, uns das Gewohnte unter Umständen wegzunehmen. Nicht, weil er etwa verwirrte Zuhörer hinterlassen möchte. Ganz im Gegenteil: Er öffnet mit vielen seiner Interpretationen und seinem medialen Verständnis eine Schleuse ins Zeitenlose und erinnert daran, das alles musische seinen Ursprung hat. Das Erlebnis des endlosen Ozeans von Musik, der sich hier ausweitet, beruhigt unsere postmodernen Nerven und bringt uns menschenalte Fixsterne wieder näher.
(2004)